Interview mit dem Kultusministerium – 24.11.2014
Ich telefonierte mit Henning Gießen, stellv. Pressesprecher im Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst
Das Kultusministerium gab auf meine Fragen folgende Antworten*:
1. Warum gibt es unterschiedliche Lehrprogramme je Schule?
In Bayern legt der Lehrplan für die jeweilige Schulart verbindlich fest, welche Kompetenzen und Wissensinhalte die Schülerinnen und Schüler in welcher Jahrgangsstufe lernen. Die Lehrpläne sind für die Lehrkräfte bindend, eröffnen aber auch einen breiten pädagogischen Spielraum. Alle Lehrmittel wie etwa Schulbücher unterliegen in Bayern einem staatlichen Zulassungsverfahren. Dabei wird unter anderem überprüft, ob die Schulbücher den Lehrplan einhalten und aktuellen pädagogischen und didaktischen Standards entsprechen. Durch dieses Verfahren – verbindliche Lehrpläne in Kombination mit zugelassenen Lehrmitteln – ist sichergestellt, dass die Unterrichtsinhalte an den Schulen in Bayern vergleichbaren Rahmenbedingungen unterliegen. Der Umzug innerhalb Bayerns sollte für Familien mit Schulkindern daher aus dieser Sicht unproblematisch sein.
Die aktuellen Lehrpläne finden Sie hier:
Die Liste der in Bayern zugelassenen Lehrbücher finden Sie hier:
2. Wird im Studium zum Lehramt Medizin gelehrt? Da einige Lehrer sich häufig als Mediziner verstehen und Eltern kuriose Diagnosen ihrer Schützlinge auf den Weg geben.
Lehrkräfte haben natürlich in der Regel kein medizinisches Studium. Allerdings sind Wissensinhalte aus Psychologie und Pädagogik verpflichtende Bestandteile des Lehramtsstudiums sowie der Lehrerausbildung. Gerade in diesen Bereichen haben die Lehrkräfte daher durchaus einiges an Expertenwissen. Zumal sie hier im Laufe ihrer Berufstätigkeit mehr und mehr Erfahrungen sammeln. Lehrkräfte erleben ihre Schüler in der Schule und begleiten sie oftmals über viele Jahre hinweg. Sie kennen ihre Schüler daher meist sehr gut und können daher wichtige Beobachtungen machen etwa im Hinblick auf Änderungen im Sozial- oder Arbeitsverhalten. Sie können hier mitunter auch in Absprache mit den Eltern wichtige Informationen für Ärzte wie Kinder- und Jugendpsychiater geben. Hierzu werden sie bei bestimmten Untersuchungen auch explizit aufgefordert.
Medizinische Diagnosen selbst dürfen Lehrkräfte natürlich nicht erstellen, das steht nur Ärzten zu. Aber aufgrund ihrer Erfahrung können Lehrkräfte Eltern und Ärzten hilfreiche Hinweise geben, beispielsweise ob eine gesonderte Sprachförderung o.Ä. empfohlen wird. Wichtig ist in jedem Fall die Kommunikation zwischen Lehrern und Eltern. Diese sollte stets von gegenseitigem Vertrauen geprägt sein.
3. Warum wird nach einem System weiter gelehrt, das äußerst fragwürdig ist? („Lesen durch Schreiben – Dr. Jürgen Reichen“)
Lehrbücher, die ausschließlich auf dem Modell von Jürgen Reichen beruhen, waren in Bayern nie zugelassen. Statt einer solch einseitigen Methode wird in Bayern die Integration verschiedener Schreib- und Leselernmethoden favorisiert. Dementsprechend weist auch der seit diesem Schuljahr an den bayerischen Grundschulen gültige LehrplanPLUS entsprechend der aktuellen Forschungslage darauf hin, dass gerade in der Anfangsphase des Schriftspracherwerbs die Prozesse des Lesen- und Schreibenlernens eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen. Sie verlaufen dabei aber für jedes Kind individuell. Verschiedene Methoden im Anfangsunterricht integrieren unterschiedliche Zugänge und berücksichtigen die persönlichen Lernvoraussetzungen und Entwicklungen, um jedem Kind möglichst gerecht zu werden – dabei können auch Schreibtabellen zum Einsatz kommen. Diesen finden sich daher auch in allen Lehrbüchern.
In der Anfangsphase des Schriftspracherwerbs erfassen die Schülerinnen und Schüler den Zeichencharakter der Schrift und nehmen die Laut- und Silbenstruktur der gesprochenen Sprache bewusst wahr. Sie bauen Wörter auf, gliedern sie nach Lauten und Silben und setzen sie in Beziehung zu den entsprechenden Buchstaben und Buchstabengruppen. Nach dem anfänglichen Lautieren und Erlesen unterteilen die Schülerinnen und Schüler Wörter zunehmend in Einheiten wie Vorsilben, Nachsilben oder häufige Wortstämme und erfassen routiniert wiederkehrende Wortteile, Signalgruppen und Wortbausteine. Sie erweitern ihren Sichtwortschatz, d. h. häufige Wörter erkennen sie auf einen Blick. Am Ende der zweiten Jahrgangsstufe lesen Schülerinnen und Schüler in der Regel Wörter, Sätze und altersangemessene Texte flüssig und Sinn erschließend und gehen mit einfachen diskontinuierlichen Texten (z. B. Tabellen oder Schaubildern) sicher um.
Der LehrplanPLUS Grundschule beinhaltet neben den verbindlichen Kompetenzerwartungen ergänzende Informationen für die Lehrkräfte auch zum Schriftspracherwerb. Der Lehrplan beinhaltet jedoch keine verbindlichen Vorgaben zum didaktisch-methodischen Vorgehen. Die Lehrkräfte treffen diese Entscheidung auf der Grundlage ihrer Fachkompetenz und ihrer pädagogischen Verantwortung. Auf die zentrale Bedeutung einer möglichst frühen Vermittlung von Rechtschreibstrategien wurde im LehrplanPLUS nochmals verstärkt Wert gelegt. Bayern trägt dafür Sorge, dass die Schülerinnen und Schüler das regelgerechte Schreiben von Anfang an systematisch einüben.
Die Liste der in Bayern zugelassenen Lehrbücher finden Sie hier:
- http://www.km.bayern.de/lehrer/unterricht-und-schulleben/lernmittel.html
4. Wieso werden normal entwickelte Kinder zu Förderschulen empfohlen, nur weil sie in den ersten 4 Wochen noch nicht lesen und schreiben können?
Schulpflichtige Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf können eine Förderschule besuchen, wenn sie aufgrund ihres sonderpädagogischen Förderbedarfs einer besonderen Förderung bedürfen, d.h. ihr individueller sonderpädagogischer Förderbedarf die besondere Ausstattung der Förderschule rechtfertigt. Der sonderpädagogische Förderbedarf wird im Rahmen eines sonderpädagogischen Gutachtens festgestellt. Dieses Gutachten erstellt die voraussichtlich zuständige Förderschule oder an ihrer Stelle die örtlich zuständige sonderpädagogische Beratungsstelle – und zwar auf Anforderung des Schulleiters der Volksschule. Der Schulleiter bzw. die Schulleiterin entscheidet danach über die Aufnahme – wenn die Eltern dies wünschen. Gemäß den derzeit gültigen Regelungen entscheiden die Eltern von Kindern mit besonderem Förderbedarf, ob ihr Kind eine Regel- oder Förderschule besucht.
Dass in das sonderpädagogisch-psychologische Gutachten auch üblicher Weise Beobachtungen der Lehrkräfte mit einfließen, die das jeweilige Kind unterrichten und damit kennen, liegt auf der Hand. Auch hier ist eine Lehrkraft ein wichtiger Beobachter ihrer Schülerinnen und Schüler und kann zu ihrem Lern- und Sozialverhalten hilfreiche Informationen liefern. Auch in diesem Zusammenhang ist ein enger und vertrauensvoller Austausch zwischen Schule und Elternhaus von grundlegender Bedeutung.
5. Gibt es Quoten, die erreicht werden müssen, oder nicht überschritten werden dürfen?
Nein, es gibt keine Quoten. Weder für die Zahl an Schülern an Förderschulen noch für die Zahl an Inklusionsfachkräften an Schulen. Man darf in jedem Fall nicht übersehen, dass Förderschulen für Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf besondere, geschützte Rahmenbedingungen wie etwa sehr kleine Klassen anbieten können. Viele Eltern schätzen das.
6. Warum ist ein Rechnen mit den Fingern verboten?
Das Rechnen mit den Fingern ist nicht verboten. Es ist vielmehr ein früher Entwicklungsschritt von Kindern im Prozess des Rechenlernens. Zunächst unterstützen die Lehrkräfte das Kind daher in seiner Form zu rechnen – auch mit geeignetem Lernmaterial (das dem Hilfskonstrukt des Rechnens mit den Fingern oft überlegen ist). Allerdings ist der Lernprozess beim Rechnen in der Grundschule so angelegt, dass das Rechnen mit den Fingern überwunden werden soll. Das übergeordnete Lernziel ist schließlich das Rechnen im Kopf. Zudem hilft bei größeren Zahlenräumen das Rechnen mit den Fingern ohnehin nicht mehr weiter.
7. Warum ist die Hausaufgabengebung so unterschiedlich? Warum gibt es dafür keine einheitlichen Regeln? Denn dies würde die Planbarkeit von Freizeitaktivitäten erleichtern.
Die Hausaufgabengebung ist in § 36 der Grundschulordnung einheitlich geregelt. Je nach Bedarf der Klasse kann das tägliche Pensum für Hausaufgaben bei bis zu 1 Stunde liegen (insgesamt für alle Fächer). Die Wochenenden und Schulferien sind grundsätzlich hausaufgabenfrei. Das heißt auch am Freitag vor Wochenenden oder Ferien, sollte das Pensum 1 Stunde nicht überschreiten. Je nach Fähigkeiten des Kindes kann es geringe Abweichungen geben, sollte das Kind aber grundsätzlich deutlich länger als 1 Stunde für die gesamten Hausaufgaben benötigen, so sollte die Lehrkraft informiert werden, damit das Pensum angepasst wird.
Hausaufgaben sind aus der Sicht des bayerischen Kultusministeriums aus zweierlei Gründen sinnvoll: Erstens fördert das engagierte und sorgfältige Anfertigen der Hausaufgaben die Leistungsentwicklung des Kindes. Das bestätigen auch Experten der Schulberatung: Hausaufgaben sind wichtig, da sie die im Unterricht eingeleiteten Lernprozesse vertiefen und unterstützen. Hausaufgaben dienen daher erstens der Einübung des Lernstoffs im Anschluss an den Unterricht, können zweitens aber auch vorbereitender Art sein, z. B. wenn zu einem Thema recherchiert werden soll. Drittens regen Hausaufgaben die Schüler zu eigener Tätigkeit an.
Das Kultusministerium hat zum Thema Hausaufgaben einige Tipps insbesondere für Lehrkräfte und Eltern zusammengestellt:
Die rechtlichen Rahmenbedingungen für Hausaufgaben sind in den entsprechenden Schulordnungen festgelegt.
Diese finden Sie hier:
Die relevanten Abschnitte für die Grund- und Haupt-/Mittelschulen, die Realschulen sowie die Gymnasien habe ich hier für Sie zusammengestellt:
Für die Grundschule:
§ 36 GrSO (Schulordnung für die Grundschulen in Bayern)
1. Um den Lehrstoff einzuüben und die Schülerinnen und Schüler zu eigener Tätigkeit anzuregen, werden Hausaufgaben gestellt, die von Schülerinnen und Schülern mit durchschnittlichem Leistungsvermögen in der Grundschule in einer Stunde, in der Hauptschule in ein bis zwei Stunden bearbeitet werden können.
2. An Tagen mit verpflichtendem Nachmittagsunterricht werden keine schriftlichen Hausaufgaben für den nächsten Tag gestellt; hiervon kann im Einvernehmen mit dem Schulforum, an Grundschulen im Einvernehmen mit dem Elternbeirat, abgewichen werden.
3. Sonntage, Feiertage und Ferien sind von Hausaufgaben frei zuhalten.
8. Wie geht das Kultusministerium mit Sorgen der Eltern um?
Wir nehmen die Sorgen der Eltern sehr ernst. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit in der gesamten Schulfamilie ist für den Lern- und Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler eine wichtige Grundlage. Die Eltern haben daher viele Möglichkeiten, um ihre Anliegen besprechen zu können. Erste Ansprechpartner sind stets die Lehrkräfte selbst und dann die jeweiligen Schulleitungen. Es ist wichtig, etwaige Probleme zunächst innerhalb der Schule zu behandeln. Hier können auch die Klassenelternsprecher und die Elternbeiräte Unterstützung geben.
Bei allen Fragen rund um Schule sind zudem die staatlichen Schulberatungsstellen wichtige Ratgeber. Ein Team von erfahrenen Beratungslehrkräften und Schulpsychologen steht hier Eltern und Schülern zur Verfügung. Im Regierungsbezirk Schwaben ist die staatliche Schulberatung in Augsburg angesiedelt – allerdings werden hier auch regelmäßige Telefonsprechstunden angeboten.
Bei fachlichen Problemen, die die Eltern nicht innerhalb der Schule besprechen können oder wollen, ist bei den Grund-, Mittel- und Förderschulen das staatliche Schulamt (hier: in Memmingen) der richtige Ansprechpartner. Diese nehmen ggf. eine Fach- oder Dienstaufsichtsbeschwerde entgegen.
Zusätzlich gibt es auf unserer Homepage in der Navigationsleiste eine Rubrik für Eltern „Was tun bei“.
9. Wie hoch ist der Anteil, selbst kinderloser Lehrkräfte?
Darüber gibt es keine Statistiken. Der Anteil dürfte dem durchschnittlichen Anteil in der Bevölkerung entsprechen. Ein solches Merkmal sagt im Übrigen über die Fähigkeiten einer Lehrkraft auch überhaupt nichts aus.
10. Wird der Bildungsplan von der Industrie beeinflusst?
Nein. Die Lehrpläne werden von den entsprechenden Experten im Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung erstellt und mit Vertretern etwa aus Wissenschaft oder aus den Lehrer- und Elternverbänden abgestimmt. Für die Wirtschaft besteht hier keine Möglichkeit der Einflussnahme.
*telefonische Auskunft von Henning Gießen, stellv. Pressesprecher im Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst